Warum wir gefährliche Situationen in Zeitlupe wahrnehmen - ein raffiniertes Experiment zeigt, wie der Zeitlupen-Effekt entsteht
Mein Auto rast auf der Schnellstraße durch die Stadt. Es dämmert, bald wird es ganz dunkel sein. Da vorne kommt meine Ausfahrt. Ich werde langsamer, setze den Blinker und bremse ab, um rechts abzubiegen. Die Ausfahrt führt in einer Rechtskurve nach oben auf eine Brücke, mitten in der Kurve fängt mein Auto an, sich zu drehen - ganz plötzlich, ohne Vorwarnung. Auf einmal läuft alles in Zeitlupe. Ich umklammere das Lenkrad und kann nur beobachten, was passiert. Ich sehe, wo sich das Auto hinbewegt, und frage mich, wo es zum Stehen kommen wird. Wenn es sich weiterdreht, wird es den Abhang runterrutschen. Glücklicherweise schaffe ich es aber irgendwie, das Auto vorher zum Stehen zu bringen, und mit noch mehr Glück fährt gerade niemand hinter mir. Es ist nichts passiert, ich starte das Auto und fahre zitternd weiter.
Warum sich mein Auto damals plötzlich gedreht hat, weiß ich bis heute nicht. Ich erinnere mich aber noch genau daran, wie die Zeit plötzlich langsamer lief und ich alles ganz genau beobachten und mir seelenruhig überlegen konnte, ob ich denn nun den Abhang hinunterrutschen würde oder nicht.
Kennen Sie diese Zeitlupenmomente? Wenn in einer brenzligen Situation plötzlich die Zeit langsamer läuft? Man das Unglück langsam auf sich zukommen sieht und sich fragt, wie schlimm es wohl werden wird?
Das muss nicht immer ein riskantes Fahrmanöver sein, es reicht schon ein Sturz. Man stolpert oder rutscht auf der Treppe aus und der Moment des Fallens scheint sich ins Unendliche zu dehnen. Man kann nichts machen, aber dafür alles ganz genau beobachten.
Am regelmäßigsten tauchen solche Zeitlupen-Momente in Filmen und Serien auf. Ein Auto rast auf eine Klippe oder Polizeiabsperrung zu, der Film wechselt in Slow Motion und man weiß, gleich könnte etwas Schlimmes passieren.
Warum ist das so? Warum nehmen wir in gefährlichen Situationen alles in Zeitlupe wahr? Ändert sich dann unsere Wahrnehmung? Schaltet das Gehirn plötzlich in den Zeitlupenmodus? Diese Fragen haben Chess Stetson, Matthew Fiesta und David Eagleman in einem ziemlich raffinierten und außergewöhnlichen Experiment untersucht.¹ Bevor ich erzähle, was die drei Neurowissenschaftler genau gemacht haben, will ich aber zuerst eine andere Frage klären, die zumindest mir vorher nicht ganz klar war:
Wie funktioniert Zeitlupe im Gehirn? Wie muss sich unsere Wahrnehmung ändern, dass für uns plötzlich alles in Slow Motion abläuft?
Man könnte ja meinen (ähem, also ich hab das die ganze Zeit gedacht), dass Slow Motion oder Zeitlupe bedeutet, dass eine Sequenz einfach nur langsamer abgespielt wird. Aber das stimmt nicht. Um eine Filmsequenz in Zeitlupe zu erstellen, werden mehr Bilder pro Sekunde aufgenommen als für normale Sequenzen. Man spricht hier auch von einer höheren zeitlichen Auflösung.² Zeitlupe-Aufnahmen wirken deshalb detaillierter und man kann Bewegungen genauer beobachten als bei normaler zeitlicher Auflösung.
Für unsere Wahrnehmung bedeutet das, dass unser Gehirn mehr visuelle Eindrücke pro Sekunde verarbeiten müsste als unter normalen Bedingungen, um solche Zeitlupen-Sequenzen zu produzieren. Die Frage ist nun, ob das wirklich passiert, wenn wir in einer brenzligen Situation sind, oder ob der Zeitlupen-Effekt auf andere Weise entsteht.
Zeitlupen-Wahrnehmung bei Tieren
Wahrnehmung in Zeitlupe ist bei Tieren gar nicht so ungewöhnlich. Vor allem kleinere Tiere, wie Hunde, Vögel und Insekten, nehmen die Welt in einer höheren zeitlichen Auflösung wahr. ³ In ihrem Gehirn werden pro Sekunde mehr Bilder verarbeitet als im menschlichen Gehirn. Das erklärt auch, warum es einer Fliege so leichtfällt, uns Menschen auszuweichen, und warum es uns Menschen so schwerfällt, eine Fliege zu fangen. Für eine Fliege bewegen wir uns in Zeitlupe, was ihr Zeit gibt, uns mühelos zu entkommen.
Aber sind auch wir Menschen dazu fähig, die Welt in höherer zeitlicher Auflösung wahrzunehmen? Schaltet unser Gehirn in den Slow-Motion-Modus, wenn wir uns in Gefahr befinden?
Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, mussten Stetson, Fiesta und Eagleman zwei Probleme überwinden: 1. Sie mussten irgendwie überprüfen, ob sich die Geschwindigkeit, in der visuelle Eindrücke aufgenommen und verarbeitet werden, in Gefahrensituationen ändert. 2. Sie mussten ihre Versuchspersonen in eine Situation bringen, die einerseits so gefährlich war, dass sie die Zeitlupen-Wahrnehmung auslöst, und andererseits ethisch vertretbar.
1. Wie wissen wir, ob das Gehirn in den Slow-Motion-Modus schaltet?
Wie wissen wir aber, ob sich die zeitliche Auflösung unserer Wahrnehmung erhöht? Wir können ja schlecht das Gehirn anzapfen um zu sehen, was eine Person wahrnimmt.
Stetson, Fiesta und Eagleman lösten dieses Problem, indem sie sich an dieses alte Kinderspielzeug erinnerten:
Wenn zwei Bilder in sehr kurzer Zeit aufeinanderfolgen (meist sind das weniger als 100 Millisekunden), werden sie von unserem Gehirn integriert und zu einem Bild zusammengesetzt.
Das Thaumatrop (von griechisch thauma = Wunder, und trope =Wendung), auch Wunderscheibe genannt, macht diese Bastelleistung des Gehirns erfahrbar.
Die Wunderscheibe ist eigentlich nur eine Scheibe aus Papier, an der rechts und links ein Stück Schnur befestigt ist. Auf ihrer Vorder- und Rückseite befinden sich zwei unterschiedliche Bilder, hier sind es ein Käfig und ein Vogel. Zwirbelt man die Schnur auf und lässt sie los, dreht sich die Scheibe so schnell, dass die Bilder, die man eigentlich nur abwechselnd sehen kann, zu einem Bild verschmelzen, und der Vogel plötzlich im Käfig sitzt.
Diesen Verschmelzungs-Effekt machten sich die Wissenschaftler zunutze. Sie baten ihre Versuchspersonen, auf ein Display zu schauen, auf dem in schneller Abfolge Zahlen zu sehen waren. Das Besondere dabei war, dass auf das Bild einer Zahl immer direkt dessen Negativ folgte. Bei langsamer Geschwindigkeit waren die Bilder und ihre Negative erkennbar und konnten unterschieden werden, wechselten sie aber schneller, verschmolzen Bild und Negativ und es war nur noch eine einfarbige Fläche zu sehen. Die Zahl war dann nicht mehr zu erkennen.
Sollte das Erleben einer gefährlichen Situation tatsächlich zu einer höheren zeitlichen Auflösung in der Wahrnehmung führen, dann sollten in der gefährlichen Situation Zahlen erkennbar sein, die unter entspannten Bedingungen nicht erkennbar sind.
2. Die nicht ganz so gefährliche gefährliche Situation
Wie schafft man es nun, die Versuchspersonen in eine Situation zu versetzen, die so extrem ist, dass sie die Zeitlupen-Wahrnehmung hervorruft, aber gleichzeitig ungefährlich und ethisch vertretbar ist? Man kann die Teilnehmenden ja nicht einfach auf die Straße stellen und ein Auto auf sie zurasen lassen oder sie mit dem Bus über eine Klippe fahren lassen. Stetson und Kollegen mussten eine Möglichkeit finden, sicheren Nervenkitzel zu generieren. Und das war ihre Lösung:
Sie luden ihre Versuchspersonen in einen Freizeitpark ein und ließen sie dort von einer Plattform auf 46 m Höhe in ein Netz springen, das 31 m tiefer lag.
Der Ablauf des Experiments
Es gibt also ein Display mit Zahlen und einen Sprung in ein Netz. Wie ist das Experiment jetzt aber genau abgelaufen?
Zwanzig Versuchspersonen waren in den Freizeitpark gekommen, um im Namen der Wissenschaft von einer Plattform zu springen. Zuerst wurde ermittelt, mit welcher Geschwindigkeit die Versuchsperson unter normalen Bedingungen Bilder verarbeitete, und ab wann zwei aufeinanderfolgende Bilder für sie verschmolzen. Dazu bekam sie ein Armband mit einem Display ums Handgelenk und sollte die Zahlen ablesen, die darauf zu sehen waren. Nach und nach wurde die Geschwindigkeit erhöht, in der Zahl, Negativbild der Zahl und neue Zahl wechselten, bis die Versuchsperson die Zahlen nicht mehr erkennen konnte, weil alles zu einer einfarbigen Fläche verschmolz.
Anschließend wurde die Wechselrate der Bilder so eingestellt, dass sie gerade über der Wahrnehmungsgrenze der Versuchsperson lag. Mit dem Display am Handgelenk wurde die Versuchsperson auf einer Plattform 14 Stockwerke nach oben gefahren. Oben angekommen, ließ sie sich von der Plattform fallen und landete nach 2,5 Sekunden im freien Fall sicher in einem Netz.
Während sie fiel, sollte die Versuchsperson auf das Display an ihrem Arm schauen und versuchen, die Zahlen zu lesen. Wenn das Gehirn die Bilder während des Sprungs tatsächlich in höherer zeitlicher Auflösung verarbeitet, dann sollte sie während des Fallens Zahlen erkennen können, die vorher unlesbar waren.
Unten angekommen sollte die Versuchsperson dann berichten, welche Zahlen auf dem Display zu sehen waren. Außerdem sollte sie mit Hilfe einer Stoppuhr einschätzen, wie lange der Sprung von der Plattform gedauert hat.
Das Ergebnis
Und? Das Ergebnis ist vielleicht etwas enttäuschend, zumindest wenn man sich Superhelden-Fähigkeiten wünscht: Die Teilnehmenden konnten die Zahlen im freien Fall nicht besser lesen als unter entspannten Bedingungen.
Und nein, das lag nicht daran, dass sie während des freien Falls die Augen schlossen oder sich nicht auf das Display konzentrierten. Das wurde von den Versuchsleitern kontrolliert. 4 Der freie Fall von der Plattform führte einfach nicht dazu, dass sie die schnell wechselnden Bilder von ihrem Negativ unterscheiden konnten. Die Ergebnisse des Experiments deuten darauf hin, dass wir die Welt nicht in höherer zeitlicher Auflösung wahrnehmen, wenn wir uns in einer bedrohlichen Situation befinden. Der Zeitlupen-Effekt muss also auf andere Weise entstehen.
Auch wenn das Erleben der Extremsituation nicht die Wahrnehmungsgeschwindigkeit änderte, so hatte es doch einen starken Einfluss auf die Zeitwahrnehmung: Die Versuchspersonen schätzten die Dauer ihres eigenen Sprungs im Schnitt als um ein Drittel (36%) länger ein, als die Dauer des Sprungs einer anderen Person, den sie beobachtet hatten.
Das heißt, die Versuchspersonen nahmen während des Sprungs nicht wirklich alles in Zeitlupe und höherer Auflösung wahr, stattdessen kam ihnen der Sprung nur im Nachhinein länger vor, als er tatsächlich gedauert hat.
Wie kommt es dann, dass wir gefährliche Situationen in Zeitlupe wahrnehmen?
Stetson, Fiesta und Eagleman vermuten, dass die Antwort auf diese Frage nicht in der Geschwindigkeit liegt, in der wir optische Reize verarbeiten, sondern in unserem Gedächtnis. Zeitwahrnehmung und Gedächtnis sind eng miteinander verwoben. Ob wir einen Zeitraum im Nachhinein als kurz oder lang wahrnehmen, hängt von unseren Erinnerungen ab. So kommen uns Wochen, für die unsere Erinnerungen voller Details und Eindrücke sind, im Rückblick länger vor als Wochen, in denen nichts Besonderes passiert ist. 5
Wenn wir uns in einer brenzligen Situation befinden, wird die Amygdala aktiviert. Die Amygdala sitzt im Temporallappen des Gehirns und ist Teil des limbischen Systems, das für die Entstehung und Verarbeitung von Emotionen verantwortlich ist. Empfinden wir Angst, dann ist die Amygdala schuld. Sie verknüpft unsere Eindrücke mit Emotionen und bestimmt auch, welche Eindrücke abgespeichert werden und wo sie abgespeichert werden. 6 Droht Gefahr, übernimmt die Amygdala die Kontrolle über die Ressourcen im restlichen Gehirn und richtet sie ganz auf die gegenwärtige Situation aus. Als würde sie dem Rest des Gehirns sagen: Achtung! Ganz genau aufpassen!
Wenn die Amygdala beteiligt ist, nehmen wir also alles sehr intensiv wahr und speichern es auch entsprechend detailreich in unserem Gedächtnis ab. Rufen wir diese Erinnerungen anschließend ab, kommen uns relativ kurze Zeiträume, wie der Sprung von einer Plattform, aufgrund der hohen Dichte an Details und Emotionen viel länger vor.
Wir bekommen also keine Superfähigkeiten, wenn wir uns in einer bedrohlichen Situation befinden, und können nicht plötzlich alles in höherer zeitlicher Auflösung wahrnehmen. Auch wenn sich die Zeitlupe sehr echt anfühlt, so ist sie doch eine Illusion, die nachträglich in unserer Erinnerung entsteht. So erklären sich zumindest Stetson, Fiesta und Eagleman die verzerrte Zeitwahrnehmung ihrer Versuchspersonen und den Zeitlupeneffekt.
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Verweise
Beitragsbild von Darius Bashar auf Unsplash