Was schau ich mir nur an? - Warum es bei Netflix und Co. so schwer ist, sich für einen Film zu entscheiden

Ah, endlich mal wieder ein freier Abend! Das Kind schläft, der Mann ist auf Dienstreise, die wichtigsten Sachen sind erledigt und im Gefrierfach ist noch Eis: Die perfekten Bedingungen für einen Filmabend! Fehlt nur noch der richtige Film.

Aber was für einen Film schau ich mir an?

Ich schmeiße Netflix an und fühle ich mich, als wäre ich nachts im Kaufhaus eingeschlossen worden: so viel Auswahl und ich kann alles haben!

Diese Euphorie hält ungefähr so lange an, bis ich mir die einzelnen Filme genauer anschaue und die Kurzbeschreibungen lese: “Mann allein in New York”, och nö, ich will lieber was mit einer Frau in der Hauptrolle. “Frau auf der Suche nach dem perfekten Mann” - hm, auch nicht, die Filme kenne ich alle schon. “Frau sucht als Wrestlerin ihr Glück” auch nicht, zu ausgefallen und außerdem interessiere ich mich nicht für Wrestling… Irgendwie ist alles ein bisschen daneben und trifft nicht das, was ich mir jetzt gerne anschauen würde. Nicht schlecht - aber doch nicht das Richtige. Mit jedem neuen Fast-treffer sinkt meine Laune. Da muss es doch noch etwas besseres geben!

Netflix versucht mir zu helfen, indem es mir Vorschläge macht. Angeblich entsprechen “The Great British Baking Show” und “Instant Hotel”, ein Wettbewerb, bei dem Australier ihr Zuhause in ein Hotel verwandeln, zu 98% meinen Vorlieben.

Denkt Netflix wirklich das würde mir gefallen? Ich muss dringend mal ein paar intellektuelle Dokus und Horrorfilme laufen lassen, damit die Vorschläge nicht mehr so peinlich sind! Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass mir diese Empfehlungen jemals geholfen haben, meistens haben sie mich eher schockiert!

Aber ich müsste doch auch ohne Hilfe einen Film finden! Wie kann es bei den 5 599 Titeln, die Netflix aktuell in den USA im Angebot hat ¹, so schwer sein, etwas zu finden?


Liegt es an mir oder haben andere auch das Problem?

Ich tue, was ich meistens tue, wenn ich ein Problem habe: ich frage meine Freunde und das Internet! Als ich meinen Freunden von meinem gescheiterten Filmabend erzähle, verstehen sie sofort, was ich meine. Im Internet stoße ich tatsächlich auf einige Einträge, in denen sich Leute beschweren, dass sie auf Netflix und Co. einfach nichts Vernünftiges finden. Einige Seiten bieten auch Tipps, die helfen sollen, schneller beim richtigen Film zu landen. Es gibt sogar einen Test, der mir helfen soll, meine nächste Lieblingsserie zu finden, und die App Tinsel, eine Art Tinder für Filme, verspricht den richtigen Film für mich zu finden.

Das Netflix-Problem scheint also häufiger aufzutreten.

Wo aber liegen die Ursachen?

An einer geringen oder schlechten Auswahl kann es nicht liegen. Die Auswahl bei Netflix ist wesentlich größer als bei Kino und Fernsehen und zudem ist alles ständig verfügbar.

An der Qualität des Angebots kann es auch nicht liegen. Da sich das Angebot aus den gleichen Inhalten zusammensetzt, die auch im Kino und im Fernsehen laufen, kann die Qualität zumindest nicht schlechter sein als dort. Das Problem liegt also nicht an Netflix und seinem Angebot, sondern eher beim Nutzer. Es muss also psychologische Ursachen haben.


Zu viel Auswahl

In seinem Buch “The paradox of choice” beschreibt der Psychologieprofessor Barry Schwartz eine ähnliche Situation, wie ich sie bei meinem missglückten Filmabend erlebt habe: Er war in einer neuen Videothek (das Buch stammt von 2004), die wesentlich besser ausgestattet war als die, zu der er sonst ging. Mit so viel Auswahl war es auf einmal eine ganz andere Erfahrung, einen Film auszusuchen. Obwohl das Angebot an Filmen riesig war und keine Wünsche offen ließ, war die Entscheidung plötzlich wesentlich schwerer. Er fühlte sich unter Druck gesetzt: wenn er einen schlechten Film auswählte, konnte er es nicht mehr auf die mangelnde Auswahl schieben, sondern die Verantwortung lag ganz allein bei ihm.

In einer britischen Befragung zur Mediennutzung berichten einige der Befragten ein ähnliches Problem bei der Nutzung von Medienangeboten wie Netflix und Co.: die Auswahl sei einfach zu groß und überfordernd und sie hätten Schwierigkeiten, etwas zu finden, das sie  anspricht. ²

Eine große Auswahl ist also nicht immer gut. In “the paradox of choice” zeigt Schwartz auf, wie uns die Explosion an Wahlmöglichkeiten in allen Bereichen unseres Lebens überfordert und welche negativen Folgen sie mit sich bringen kann. Er beschreibt die psychologischen Nebenwirkungen, die mit einer großen Auswahl einhergehen, und erklärt, warum sie es uns so schwer machen, eine zufriedenstellende Entscheidung zu treffen.

Die große Auswahl ist wohl auch die Hauptursache für mein Netflix-Problem. Zwei der negativen Konsequenzen einer großen Auswahl, die Schwartz beschreibt, treffen dabei besonders gut auf das Netflix-Problem zu und machen nachvollziehbar, warum wir die Suche nach einem geeigneten Film trotz riesigem Angebot manchmal frustriert abbrechen:

1. Die riesige Auswahl führt zu überhöhten Erwartungen

Allein die Tatsache, dass es so viele Filme gibt, aus denen man wählen kann, verändert die Erwartungen, die man an den gewählten Film hat: Im Fernsehen liefen früher höchstens 3 Filme im Abendprogramm und mittlerweile sind es auch nicht mehr als 10. Einen dieser Filme hat man dann eingeschaltet und sich auf etwas Unterhaltung gefreut. Wenn aber 5 599 Filme verfügbar sind, sehen die Erwartungen plötzlich ganz anders aus: Bei so viel Auswahl muss doch der Richtige für mich dabei sein! ³  Diese hohen Erwartungen erschweren aber die Suche nach einem Film: Den richtigen Film unter Tausenden zu finden, ist um einiges schwerer als von zehn einfach einen zu nehmen, der etwas Unterhaltung bietet.

2. Man kann nicht alles haben - Opportunitätskosten

Die Auswahl beeinflusst nicht nur unsere Erwartungen, sondern auch wie wir die einzelnen Optionen bewerten. Psychologisch gesehen macht es einen Unterschied, ob wir uns zwischen 10 oder 10 000 Filmen entscheiden müssen. Jede Option, die wir betrachten, bringt bestimmte Vor- und Nachteile mit sich. Entscheidet man sich gegen eine Option, muss man auch auf ihre Vorteile verzichten. Diese verpassten Vorteile nennt man Opportunitätskosten.

Je mehr Alternativen wir uns anschauen, desto mehr verlorene Vorteile gibt es. Die Opportunitätskosten summieren sich und verringern die Attraktivität des bisherigen Favoriten. Man kann sich das auch so vorstellen, dass man bei jeder Alternative etwas entdeckt, was man auch gerne hätte, das die bisherige Lieblingsoption aber nicht hat. Mit jeder weiteren betrachteten Option wird der Favorit abgewertet, weil bewusst wird, was er eben nicht bieten kann.

Oft genug ist am Ende keine der verbleibenden Optionen attraktiv genug, dass man sich tatsächlich für sie entscheiden will. Nachdem man sich durch zig Kurzbeschreibungen gelesen hat, bleibt man mit einer Auswahl an Filmen zurück, die alle irgendwie nicht so überzeugend sind.

Kein Wunder, dass die Auswahl eines Films auf Netflix Probleme bereiten kann! Die hohen Erwartungen auf der einen Seite und die Opportunitätskosten auf der anderen Seite, die es noch schwerer machen, diese Erwartungen zu erfüllen, machen die Suche nach dem passenden Film zu einem schwierigen Unterfangen!

Dummerweise können wir uns noch nicht mal beschweren, wenn wir nichts finden, das uns überzeugt: Es gibt so viel Auswahl und alles ist immer verfügbar, da liegt die Verantwortung, etwas Vernünftiges zu finden, allein bei uns!

Das gute alte Fernsehen

Da macht es einem das Fernsehen doch wesentlich leichter: Man schaltet ein und schaut  einfach mal, was so läuft, ohne besondere Erwartungen. Oft bleibt man schnell und relativ mühelos irgendwo hängen.

Während ich bei Netflix äußerst wählerisch bin und die Kurzbeschreibungen der einzelnen Titel sehr kritisch betrachte, scheint es mir beim Fernsehen fast egal zu sein, was ich anschaue. Eine Zusammenfassung meines letzten Fernsehabends in Kurzbeschreibungen würde sich ungefähr so lesen:  “C-Promi lässt sich im Dschungel aussetzen und isst Känguru-Hoden”, “Bauer sucht Frau” und “Quiz mit viel zu spezifischen Fragen, bei dem die Kandidaten nur raten können.” Beim Fernsehen muss ich eben keine bewusste Entscheidung treffen. Ich muss nur einschalten und kann mich einfach im laufenden Programm treiben lassen. Das Ergebnis ist dann aber auch entsprechend wahllos und hinterher weiß ich oft nicht mehr genau, was ich mir angeschaut habe, und erst recht nicht, warum ich es mir angesehen habe.

Was kann man tun?

Dummerweise tritt das Netflix-Problem meistens dann auf, wenn man gerade überhaupt nicht motiviert ist, irgendwelche Entscheidungen zu treffen: Es ist Abend, man hat schon genug geleistet, schon 10 000 Entscheidungen getroffen und will sich jetzt einfach nur noch entspannen und sich nicht noch stundenlang durch die unendlich große Filmdatenbank wühlen. Was kann man also tun, um schnell zu einer Entscheidung zu kommen?

1. Sich des Problems bewusst sein

Vielleicht hat es schon geholfen, diesen Beitrag zu lesen! Wenn man im Hinterkopf hat, dass die große Auswahl nicht unbedingt bedeutet, dass man gleich den richtigen Film findet, und sich dessen bewusst ist, was jede weitere betrachtete Option mit dem bisherigen Favoriten anstellt (Opportunitätskosten), geht man anders an die Filmauswahl ran und hat allein dadurch schon realistischere Erwartungen.

2. Einschränkungen festlegen

Was die Entscheidung für einen Film so schwer macht, ist auch, dass es auf Netflix keine Einschränkungen gibt: Es gibt tausende Titel, die immer verfügbar sind. Also kann man sich die Entscheidung erleichtern, indem man selbst Einschränkungen festlegt, zum Beispiel indem man sich ein Zeitlimit setzt, wie lange man sucht, oder eine Grenze für die Anzahl an Titeln festlegt, die man sich genauer anschaut, bevor man sich entscheidet. Diese Regeln, auch wenn sie willkürlich sind, beschleunigen und erleichtern die Entscheidungsfindung und senken die Erwartungen. Man sucht nicht mehr den besten Titel aus 30 000, sondern nur den besten Titel unter 10, oder den besten, den man in 15 Minuten findet. Statt den perfekten Film zu erwarten, ist man nach dieser beschränkten, etwas zufälligen Auswahl auch eher bereit, sich von einem Film überraschen zu lassen.

3. Es gar nicht so weit kommen lassen

Und der letzte Tipp wäre, eine Liste mit Filmen, Serien und Dokus zu führen, die man sich anschauen will. Darauf kann man dann immer zurückgreifen, wenn man man mal wieder vor dem Netflix-Problem steht. Das einzige Problem an der Liste ist, dass man sie schon vorher angelegt haben muss, damit man auf sie zurückgreifen kann. Aber vielleicht kann hier das Internet helfen, es ist ja möglich, dass jemand anders schon so eine Liste angelegt hat, von der man sich inspirieren lassen kann.

Ich hoffe, diese Tipps helfen und falls Sie sich trotzdem mal wieder von Netflix und Co. überfordert fühlen, können Sie ja einfach aufs Fernsehen zurückgreifen, denn das überfordert selten.


Weitere Beiträge zu Entscheidungen und Entscheidungsschwierigkeiten:

Entscheidungsmarathon beim Geschenkekauf - Von Maximizern und Satisficern und der Spirale des Wahnsinns

Verweise:

[3] In drei Studien konnten Kristin Diehl und Cait Poynor diesen Anstieg an Erwartungen durch eine größere Auswahl nachweisen und zeigen, dass sie zu weniger Zufriedenheit mit und größerer Enttäuschung über die gewählte Option führt. Egal, ob die Studienteilnehmer ein Hintergrundbild für ihren Rechner,  eine Geburtstagskarte oder einen Camcorder für einen Kollegen auswählen sollten, eine größere Auswahl führte zu höheren Erwartungen, mehr enttäuschten Erwartungen und weniger Zufriedenheit mit dem gewählten Produkt.
Diehl, K. & Poynor, C. (2010). Great expectations?! Assortment size, expectations, and satisfaction. Journal of Marketing Research, 47(2), 312-322.